Voraussetzung für den Transit von Schlesien in die Bundesrepublik Deutschland war in der DDR ein Ausfahrtsverbot von der Autobahn A4 und das Befahren der daran gelegenen Ortschaften. Städte in der DDR kannten Schlesier nur, wenn sie das Ziel ihrer Reise waren, etwa, um Verwandte zu besuchen. Diese Angewohnheit ist bei manchen Menschen geblieben und Städte wie Erfurt sind uns weniger bekannt als Köln oder München. Dabei sind sie eine Fundgrube des Reichtums deutscher Geschichte und Kunst. Dort, wie überall in Deutschland, finden wir natürlich auch Verbindungen zu Schlesien, die trotz der Grenzen nicht gelöscht werden können.
Das wurde mir bei meinem letzten Kurzaufenthalt in der Landeshauptstadt Thüringens noch einmal klar. Sehenswert ist der Mariendom, der zusammen mit der Severinskirche über dem Zentrum der Altstadt thront und durch die man gehen muss, um zur Krämerbrücke über die Gera zu gelangen. Trotz Dutzender Bombenangriffe der Alliierten sind in der Kathedrale noch beeindruckende Buntglasfenster aus dem 14. Jahrhundert und gotische Altäre erhalten, darunter der mit der Erfurter Einhornretabel.
Aber Erfurt ist auch eine Stadt, in der die Menschen um religiöse Inhalte stritten. Die Worte des großen Mystikers Meister Eckhart, der an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert hier wirkte, sind heute auf dem Bürgersteig vor der Dominikanerkirche zu lesen, wo er predigte: „Bist du gerecht, so sind auch deine Werke gerecht“ oder „Man kann Gott nicht besser finden als dort, wo man ihn lässt.“ Spricht er sie uns heute nicht klar und deutlich vor? Mit seiner kontemplativen Theologie und seinem Ruf zur inneren Vereinigung mit Gott in mystischer Einheit setzte er sich dem Vorwurf der pantheistischen Häresie aus. Zwei Jahrhunderte später studierte Martin Luther Theologie an der Universität Erfurt und wurde dort Augustinermönch.
Das sind wichtige und bekannte Persönlichkeiten, aber wenn ich durch Erfurt spaziere, erinnere ich mich, dass ich auch in die Fußstapfen von Oskar Cohn trete, einem deutschen Politiker jüdischer Herkunft, der in die Familie eines Kaufmanns aus Guttentag hineingeboren wurde, sein Abitur in Brieg machte und als Erfurter Kandidat in den Jahren 1912–1918 Mitglied des Reichstags und 1919–1920 Mitglied der Weimarer Nationalversammlung war. Dort setzte er sich für die Anerkennung der jüdischen Volksgruppe ein, sprach sich für eine einheitliche deutsche Republik ohne Länder aus und gegen die Bezeichnung „Reich“ als Zeichen des Imperialismus. Schließlich unterstützte er als Zionist die Ansiedlung von Juden in Palästina.
Ich weiß nicht, ob Cohn es wusste, aber einer meiner Freunde aus Erfurt weiß, dass die Granitsäulen im Portal des Hauptbahnhofs aus Strehlen in Schlesien stammen. Aus diesen und anderen Gründen bin ich voller Liebe durch die Straßen Erfurts gelaufen.
Bernard Gaida