„So überschlägt sich die Zeit wie ein Stein von Berge herunter, und man weiß nicht, wo sie hinkommt und wo man ist.“
Johann Wolfgang von Goethe
Liebe Landsleute und Freunde der Deutschen Minderheit,
wir verabschieden uns nun vom alten Jahr und blicken hierbei zurück und zugleich nach vorn, auf unseren weiteren Weg. Ein weiteres Jahr mit der Pandemie hat uns sowohl persönlich als auch gesellschaftlich geprägt. Daher möchte ich zunächst all jenen mein Mitgefühl aussprechen, die direkt oder indirekt durch die Pandemie Angehörige verloren haben, und ich denke mit Trauer an die Mitglieder unserer deutschen Gemeinschaft, die von uns gegangen sind.
Gleichzeitig wende ich mich mit großer Dankbarkeit an all diejenigen, die sich trotz der Pandemie mit noch größerem Engagement in den Dienst unserer Gemeinschaft gestellt haben. Vor allem an diejenigen, die dies ehrenamtlich getan haben. Dank Ihnen haben wir Hunderte von Projekten in unseren Begegnungsstätten durchgeführt, Dutzende von Publikationen erstellt, konnten wieder Samstagskurse für Kinder anbieten und in Zusammenarbeit mit Schulen Deutschgruppen für Oberstufenschüler starten. Projekte wurden uns nicht nur von Organisationen in Schlesien, Pommern, Ermland und Masuren angeboten, die Mitglied im VdG sind, sondern auch vom Forschungszentrum der deutschen Minderheit und dem Haus der deutsch-polnischen Zusammenarbeit. Wir schließen ein Jahr voller wichtiger Jubiläen ab, denen wir versucht haben, einen würdigen Rahmen zu geben. Der VdG, dessen Vorsitzender ich seit fast 12 Jahren die Ehre habe zu sein, feierte sein 30-jähriges Bestehen, das mit dem Jahrestag des deutsch-polnischen „Vertrags über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit“ zusammenfiel.
Wir waren sehr erfreut über die vollen Säle und die pro-europäischen Reden polnischer Kommunalpolitiker bei unseren Jubiläumsfeiern in Köslin und Kattowitz. Dies gilt umso mehr, als ich und viele von Ihnen das ganze Jahr über den Eindruck hatten, dass diese Erinnerung nur für Deutschland und die deutsche Minderheit ein wichtiges Anliegen war. Dabei war es ja ein Meilenstein in der schwierigen Geschichte unserer beiden Länder.
Der Plebiszit und seine Folgen
Im Jahr des 100. Jahrestages der oberschlesischen Volksabstimmung, die trotz des eindeutigen Willens der Schlesier, innerhalb der deutschen Grenzen zu bleiben, eine militärische Lösung nicht verhindern konnte, haben wir viel dafür getan, dass die Wahrheit über diese Ereignisse die in Polen noch immer verehrten Mythen ersetzt. Wir haben versucht, diesem Jahrestag einen versöhnlichen Charakter zu geben, indem wir die Volksabstimmung als Sieg der Demokratie und den sogenannten Schlesischen Aufstand als ihre tragische Negation dargestellt haben. Den Gefallenen auf polnischer und deutscher Seite gleichermaßen Ehre erweisend, haben wir beschlossen, nunmehr jedes Jahr den einzigen sinnvollen Jahrestag dieses Konflikts zu begehen, nämlich die Niederlegung der Waffen am 5. Juli 1921. Wir stellten uns damit bewusst in Opposition zu staatlichen Gedenkfeiern für den Ausbruch tragischer und oft brudermörderischer Kämpfe und Blutvergießen. Möge dies ein bleibendes Vermächtnis des Jahres 2021 in Schlesien sein und ein deutliches Zeichen für die versöhnliche Rolle der Deutschen in Polen, gleichwohl aber mit Respekt vor der historischen Wahrheit und ihrer eigenen Einschätzung. Wir hoffen, dass die Zeit kommen wird, in der sich uns auch Vertreter von Regierungsstellen anschließen werden.
Bedrohte Zweisprachigkeit
Die Ereignisse des vergangenen Jahres waren geprägt von der außergewöhnlich aktiven Haltung junger Deutscher aus Schlesien, aber auch aus Ermland und Masuren. Besonders sichtbar wurden sie durch ihre Projekte, aber auch in Situationen wie jener, als sie sich geschlossen für zweisprachige Schilder an Bahnhöfen einsetzten oder bei den Feierlichkeiten auf dem St. Annaberg, in ihrem Bemühen um den Erhalt von Spuren der deutschen Vergangenheit in Pommern etc. Darum haben wir ihnen in diesem Jahr mit großer Freude ein Jugendzentrum in der ehemaligen VdG-Zentrale in Oppeln zur Verfügung gestellt, wo sich das Jugendleben bereits abspielt, ihre Zeitung entsteht, Projekte stattfinden.
Die Distanz, die zwischen Warschau und Brüssel bzw. Berlin zu spüren ist, hat auch uns gegenüber reale Formen angenommen – in den Versuchen, das Recht auf bereits bestehende zweisprachige Schilder und die Rolle des Abgeordneten der Deutschen Minderheit, Ryszard Galla, im Sejm in Frage zu stellen und schließlich in dem Schock, den die Abstimmung im Sejm über eine deutliche Kürzung der Bildungszuschüsse für den Unterricht der nationalen Minderheitensprachen im Jahr 2022 und die Ankündigung einer weiteren Kürzung ausgelöst hat, mit der Betonung, dass dies nur uns Deutsche in Polen betreffen soll. In dieser zunehmend feindseligen Atmosphäre wurde die Volkszählung 2021 durchgeführt, die jeden von uns mit der Frage der Nationalität konfrontierte. Wir wissen noch nicht, wie viele von uns sich trotz der neu aufkeimenden Ängste mutig zu ihrer deutschen Volkszugehörigkeit bekannt haben. Wir werden nie erfahren, wie viele sich entschieden haben, sich nicht als Deutsche zu definieren, und wie viele die regionale Identifikation als Kompromiss und sicherere Lösung ansahen. Leider ist gerade das Jahresende eine Zeit, in der ich von vielen unserer Mitglieder höre, dass sie wieder Angst haben, in Polen sie selbst zu sein. War dies 32 Jahre nach der Messe in Kreisau zu erwarten?
In dieser Weihnachts- und Neujahrszeit möchte ich all jenen von uns danken, die durch die Situation an der polnisch-weißrussischen Grenze veranlasst wurden, sich mit dem Schicksal von Flüchtlingen und Migranten zu solidarisieren, die von Politikern in die Rolle von Instrumenten ihrer Politik gedrängt wurden. Vielen Dank für die Solidarität mit den Opfern des Brandes in einem slowakischen Dorf in der Zips und des Hochwassers in Deutschland. Ich bin besorgt über die Zunahme fremdenfeindlicher und feindseliger Haltungen gegenüber anderen aufgrund ihrer Kultur oder Sprache, ohne Rücksicht auf ihr Schicksal. Diese Haltungen sind gefährlich, weil sie sich gegen jede Minderheit richten können.
Deutsch-Polnische Beziehungen
Wir leben in einem Teil der Welt, in dem niemand demokratische Lösungen in Frage stellt, selbst wenn man versucht, sie nach eigenen Vorstellungen zurechtzubiegen. Die Wahlen sind der wichtigste Ausdruck dieser Demokratie. Die Wahlen in Deutschland, die mit unserem Gefühl der kulturellen, sprachlichen und nationalen Zugehörigkeit verbunden sind, haben die politische Szene neu gemischt. Die von Bundeskanzler Olaf Scholz geführte Regierung aus SPD, FDP und Bündnis 90/DieGrünen begann ihre Außenpolitik traditionsgemäß mit Besuchen in Paris, Brüssel und Warschau. Letzterer zeigte ein Ausmaß an Spannungen zwischen den Staaten, das uns Sorgen macht, ganz besonders die Tatsache, dass die deutsche Minderheit mit ihrem behinderten Zugang zum muttersprachlichen Schulunterricht in Polen auf dieser Liste steht. Die Art und Weise, wie 10 Jahre nach Beginn der Gespräche am Runden Tisch in Polen versucht wird, die deutsche Minderheit sowohl in Polen als auch in Deutschland mit den Polen zu entzweien, ruft bei mir, der ich die Erklärung dieses Gremiums im Jahr 2011 mitunterzeichnet habe, tiefe Bedenken hervor. Ich bin auch davon überzeugt, dass die neue deutsche Regierung gerade dabei ist, die Überzeugung zu gewinnen, dass sie das Recht der deutschen Minderheiten auf ihre Sprache und Kultur in ihren Wohnländern mit Nachdruck verteidigen muss. Auch in Polen. Dies wurde uns in den letzten Tagen deutlich zugesichert. Was uns als polnische Bürger jedoch beunruhigt, ist, dass versucht wird, uns zu Geiseln der polnischen Deutschlandpolitik zu machen, während die Verpflichtungen gegenüber den nationalen Minderheiten durch die Ratifizierung der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen, die seit Jahren nicht vollständig umgesetzt wird, ignoriert werden.
Mit dem Hinweis auf dieses wichtige Dokument des Europarates komme ich nun zu dem, was vor uns liegt, denn im Jahr 2022 werden es 30 Jahre sein, seit sein Inhalt in Straßburg verkündet wurde. In Polen ist die Charta seit 2009 Gesetz. Leider ein Gesetz, dessen zahlreiche Verpflichtungen unerfüllt bleiben, was sich negativ auf die Lage der nationalen Minderheiten einschließlich der deutschen Gemeinschaft auswirkt, da die Sprache der wichtigste Träger der Identität ist und bleiben wird. Eine der Verpflichtungen, die der Europarat als nicht erfüllt kritisiert, ist die Bereitstellung von Bildung in deutscher Sprache.
Verzeihen Sie mir, dass ich zu Beginn des neuen Jahres so schwierige Themen anspreche, doch gerade an der Schwelle zum neuen Jahr möchte ich Sie alle bitten, eine besondere Verantwortung für das Erbe zu empfinden, das unsere Vorfahren an uns weitergegeben haben. Sie hatten es oft viel schwerer: Sie überlebten die Kriege, den Terror der Nachkriegszeit, die kulturelle und sprachliche Diskriminierung, bewahrten oft ihre Sprache und ihre Traditionen, versteckten in der Zeit der Volksrepublik deutsche Stammbücher, Bücher und sogar deutsche Denkmäler in der Volksrepublik Polen. Wir haben seit dem Ende der Volksrepublik viel erreicht, aber noch mehr liegt vor uns.
Sprache pflegen und schützen
Der Vorstand des VdG muss versuchen, in Gesprächen mit der Regierung die Situation der deutschen Sprache im Schulsystem in Schlesien, Pommern, Ermland und Masuren, wo wir leben, zu verbessern, aber gleichzeitig muss der Wille der Eltern und Schüler, diese Sprache zu lernen, stark zum Ausdruck gebracht werden, nicht nur in Form zusätzlichen Unterrichts, sondern auch in Form zweisprachigen Unterrichts und deutscher Sprache. Die deutsche Sprache bedeutet nicht nur die Pflege des Erbes, sondern vor allem die Pflege einer Zukunft, die in ihr wurzelt. Es ist die Sprache der stärksten Wirtschaft in der EU, eines Landes, das wie kein anderes in den letzten Jahrzehnten ein Grundpfeiler der europäischen Integration war, aber auch eines Landes, in dem viele unserer Nächsten leben und leben werden.
Deshalb müssen wir alle neben den Bemühungen um die Weiterentwicklung der Bildung, um verschiedene Formen der Verbreitung und Anwendung der Sprache wie das Projekt Lernraum.pl, Kurse und Sprachcamps die Frage beantworten, wie viel wir für die Sprache unserer Vorfahren tun. Angesichts der jüngsten Kürzungen der Zuschüsse für den Deutschunterricht sind im Internet Petitionen zur Verteidigung der deutschen Sprache erschienen, denn es besteht noch immer die Hoffnung, dass der polnische Senat und später die Abgeordneten diese schädliche Entscheidung ändern können. Ich danke ihren Initiatoren. Bitte unterschreiben Sie sie, um zu zeigen, wie sehr wir das Deutsche brauchen. Aber das Wichtigste ist: Verwenden Sie es zu Hause, geben Sie es aktiv oder passiv an Ihre Kinder weiter. Seine Zukunft hängt am meisten davon ab.
In den vergangenen 30 Jahren haben die Organisationen der Deutschen Minderheit eine beeindruckende Struktur mit rund 500 Begegnungsstätten aufgebaut. Die meisten von ihnen liegen in Oberschlesien, aber sie erstrecken sich auch über Niederschlesien, Pommern, Kujawien, Ermland und Masuren. Mit Unterstützung des deutschen Innenministeriums halten wir sie zum Nutzen der in ihrem Gebiet lebenden Deutschen in Betrieb. Füllen Sie diese Orte mit Leben, lassen Sie sie der Integration unserer Gemeinschaft dienen, lassen Sie sie lokale Freundschaften zwischen Polen und Deutschen schaffen, je mehr die große Politik versucht, diese Errungenschaft der letzten 30 Jahre zu zerstören. Nur lebendige Begegnungsstätten sind sinnvoll, und nur aktive Begegnungsstätten werden erhalten bleiben.
Identität
Neben der Sprache wird unsere deutsche Identität auch durch die historische Erinnerung geprägt, die sich oft naturgemäß von dem unterscheidet, was gemeinhin bekannt ist. Im Jahr 1922 wurde eine Grenze gezogen, die Oberschlesien teilte. Nach 100 Jahren haben wir das Recht, dies als ein tragisches Ereignis für die Schlesier zu betrachten, das zu den ersten Zwangsmigrationen führte, aber wir haben auch das Recht zu betonen, dass damals im polnischen Teil Schlesiens deutsche Schulen eingerichtet wurden, die es heute in Polen nicht gibt. Unterschiedliche Schwerpunkte in der Geschichtsbetrachtung müssen nicht spalten. Wenn sie diskutiert und erörtert werden, tragen sie einerseits dazu bei, Brücken des Verständnisses und der Akzeptanz zu bauen und andererseits, die Identität zu stärken. Dazu dienen das bereits funktionierende Forschungszentrum der deutschen Minderheit sowie das Dokumentations- und Ausstellungszentrum der deutschen Minderheit, das 2022 in Oppeln eröffnet werden soll. Es wird der erste Ort im Land sein, der von der jahrhundertelange Präsenz der Deutschen in den Grenzen des heutigen Polens und damit von den Wurzeln der heutigen deutschen Minderheit erzählen wird. Ich hoffe, dass es sowohl der Mehrheit als auch uns selbst helfen wird, Wissen zu erlangen, das eine Voraussetzung für Akzeptanz ist.
Die Pandemie zwang uns, einige Projekte zu streichen oder zu verschieben. Eines davon war die größte kulturelle Veranstaltung der Deutschen in Polen, das Kulturfestival der deutschen Minderheit in Breslau. Ich hoffe, dass wir am 10. September 2022 wieder in der Jahrhunderthalle zusammenkommen und mit Stolz das Schaffen unserer Künstler auf der Bühne präsentieren können, während wir in den Gängen etwas über die Leistungen unserer Dutzenden von regionalen, schulischen, industriellen und Jugendorganisationen erfahren können. Sie alle zusammen, und nicht einzeln, prägen das Leben der deutschen Gemeinschaft in Polen. Keine von ihnen darf eine Insel sein. Sie müssen sich alle gegenseitig unterstützen und respektieren. Die größeren Organisationen müssen den kleineren helfen, von denen sie sehr oft auch Modelle für die Pflege der deutschen Identität übernehmen können.
Wahljahr im VdG
Der VdG bemüht sich seit 30 Jahren, der Dreh- und Angelpunkt dieser Zusammenarbeit zwischen deutschen Organisationen aus 10 Woiwodschaften zu sein. Das ist keine leichte Aufgabe, denn zwischen Schlesien, Pommern, Kujawien und dem ehemaligen Ostpreußen gibt es Unterschiede in der Geschichte, im Dialekt, aber auch in unserer heutigen Situation. Wir alle leben in der Diaspora, aber in Oberschlesien gibt es viel mehr von uns als im Norden. Wir alle haben ein starkes Bedürfnis, uns an der Politik zu beteiligen, aber tatsächlich sind wir nur in der Woiwodschaft Oppeln aktiv politisch präsent. Wir alle wollen, dass die jungen Menschen eine starke Rolle in der Organisation und im Leben der deutschen Minderheit spielen: dass sie die Leistungen der Älteren respektieren, ihre Rolle übernehmen und in die Zukunft blicken. Eine gute Vertretung der deutschen Minderheit wird nicht nur von uns, ihren Mitgliedern, erwartet, sondern auch von denen, die uns in den beiden Regierungen und internationalen Organisationen unterstützen. Im Jahr 2022 endet die derzeitige Amtszeit des VdG-Vorstandes mit Vertretern aus allen Regionen, in denen wir leben. Sorgen Sie dafür, dass es gute Delegierte aus Ihren Organisationen gibt und somit einen guten VdG-Vorstand, der bereit ist, uns allen zu dienen. Je schwieriger die Zeiten sind, desto größer sind die Anforderungen an uns.
Abschließend möchte ich allen polnischen und deutschen Regierungs- und Selbstverwaltungseinrichtungen, Stiftungen und Einzelpersonen für die Unterstützung danken, die wir erhalten haben. Wir könnten nicht funktionieren, wenn es kein Förderprogramm für deutsche Minderheiten in Deutschland und keine Mittel für unsere Kultur- und Medienprojekte in Polen gäbe. Wir können uns unsere lokalen Strukturen nicht ohne die Unterstützung der kommunalen Behörden vorstellen. Wir danken für die gute Zusammenarbeit mit unserer eigenen Stiftung für die Entwicklung Schlesiens.
Ich wünsche Ihnen für das neue Jahr Gesundheit und Glück im persönlichen Leben, und als Gemeinschaft, die durch ein gemeinsames deutsches Erbe geeint ist – und mit dem Ziel, die kulturelle und nationale Identität zu bewahren und eine sprachliche Identität wiederherzustellen, wünsche ich Ihnen Erfolge, die Polen und Deutschland bereichern und zur Integration eines multikulturellen Europas beitragen.
Möge Gott uns segnen!
Ihr Bernard Gaida
Vorsitzender des Verbandes deutscher sozial-kultureller Gesellschaften in Polen