Am Samstag wurde mir bewusst, wie sehr sich die Geschichte der Organisation der Deutschen in Waldenburg nicht nur von der Geschichte anderer Organisationen in Polen, sondern in fast ganz Mittel- und Osteuropa unterscheidet. Außer in Rumänien und teilweise in Ungarn konnten sich alle Deutschen von der Oder bis Kamtschatka erst nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ organisieren. Dabei feierten wir im charmanten, deutschgeprägten Kurtheater in Bad Salzbrunn das 65-jährige Bestehen der örtlichen Organisation. Hier ist nicht der Platz, um die Geschichte dieses Vereins zu beschreiben, aber es muss daran erinnert werden, dass während dort der Verein, deutsche Schulen und Zeitungen entstanden sind, andernorts es verboten war, Deutsch zu sprechen und zu unterrichten – und für Versuche, sich als Deutsche zu organisieren, Haft drohte.
Mein Onkel wurde im nahegelegenen Niedersalzbrunn geboren, aus dessen Geschichten ich die Realität deutscher Schulen neben polnischen kenne. Von ihm weiß ich von Wettkämpfen zwischen diesen Schulen, bei denen die Mannschaften Fußball spielten, und mein Onkel sich mit seinen polnischen Freunden in gebrochenem Polnisch verständigte. Doch Ende der 1950er-Jahre wurde er mit seiner Mutter und Tausenden anderen in die DDR „vertrieben“ (so nannte er es immer). Der euphemistische Begriff „Umsiedlung“ vermittelt nicht die Emotionen dieses Prozesses.
Wie Deutsch die Region war, die der polnischen Verwaltung propagandistisch als Piastenland geschenkt wurde, zeigt Salzbrunn selbst, wo hundert Meter vom Theater entfernt das Elternhaus der Schriftsteller Carl und Gerhart Hauptmann steht, die aus der deutschen Literatur nicht wegzudenken sind. Obwohl es nicht schwierig war, glaubte man, dass diese Opfer hinter den unmenschlichen Methoden der Sieger des Krieges den Frieden für die Nachkriegswelt sichern würden. Man ließ es zu, weil man sich an die Schrecken des Krieges erinnerte. Und der erzwungene Frieden in Europa hielt an.
Als vor mehr als 30 Jahren die Berliner Mauer fiel, Deutschland sich wiedervereinigte und der Zusammenbruch der UdSSR bedeutete, dass sich die propagandistische Feindseligkeit der beiden Systeme in eine Partnerschaft und die Erweiterung der Europäischen Union zu verwandeln begann, glaubte ich, wie viele andere auch, dass diese Integration als selbstverständliches Gut nur fortschreiten kann.
Wenn ich mir heute Fotos von Kiew ohne Strom anschaue, ständig neue Bilder von bombardierten Städten und Menschen, die im Namen des Wiederaufbaus der „Russkij Mir“ getötet wurden, wird mir meine Naivität bewusst und ich weiß, dass nichts für immer gegeben ist. Die Unabhängigkeit der Ukraine und die Integration Europas irritierten Politiker in Russland 30 Jahre lang bis zum endgültigen Ausbruch des Konflikts. Der Krieg wurde jedoch von einer Generation ausgelöst, die einen Krieg nicht erlebt hat und nicht bereit ist, nationalistische Ideen zugunsten von Verständigung und Frieden zu opfern. Und das ist beängstigend, denn solche Ideen werden nicht nur in russischen Köpfen geboren. Wir spüren auch langsam, dass sie uns bereits berühren.
Bernard Gaida