Enthusiasmus

Enthusiasmus

In der letzten Woche habe ich in Erfurt an einem Jubiläum teilgenommen: Vor 30 Jahren wurde der Freundschaftsvertrag zwischen dem Bund der Vertriebenen (BDV) in Thüringen und dem VdG in Polen geschlossen. Während meiner Zeit als VdG-Vorsitzender habe ich die engagierten Mitglieder des BDV aus Erfurt im Rahmen unterschiedlicher Projekte in den letzten 13 Jahren vielmals sowohl in Oppeln, Lubowitz als auch in Ostpreußen begrüßen dürfen. Meist in Schulen in Begleitung von Lehrern, da Deutsch- und Geschichtsunterricht einen großen Anteil unserer Tätigkeit ausmacht. Bis heute lernen die Kinder in manchen Schulen mit Lehrmaterialien aus Erfurt. In meinem Grußwort habe ich zudem unterstrichen, dass es wichtig ist, auch die Grundlagen nicht zu vergessen: „Diese Partnerschaft ist aus dem Gedanken entstanden, dass die Heimatvertriebenen und Heimatverbliebenen zusammengehören – eine große Familie sind, die getrennt wurde. Beide Gruppen haben die Heimat verloren. Entweder geografisch oder sprachlich-kulturell. Durch den Eisernen Vorhang wurden Familien wortwörtlich auseinandergerissen. Ein direkter und freier Austausch zwischen den Vertriebenen in der Bundesrepublik, jenen in der DDR und denen in der, nunmehr polnischen, Heimat Verbliebenen war jahrzehnte lang nur schwer möglich. Trotz unterschiedlicher Beschränkungen war es für mich noch einfacher, die Verwandtschaft zu treffen, die in Sachsen nach den Verwirrungen des Krieges landete als die im Westen.  In diesen Kontakten lag ein zusätzlicher Mehrwert auch darin, dass sie, wie wir in Polen, in einem sozialistischen Land gelebt hatten und uns somit besser verstanden. Das habe ich auch immer in Gesprächen mit Menschen aus dem BDV Thüringen gespürt. Dank dieser Erfahrungen haben sie besser verstanden, wie es möglich war, dass die deutsche Sprache in den Familien durch staatliche Schikanen ausgerottet worden war.“

Ohne diese Grundlagen ist das starke Engagement seit dem Jahr 1994 nicht zu verstehen. Damals herrschte sowohl in den Reihen der Deutschen in Polen als auch unter den Vertriebenen ein beispielloser Enthusiasmus. Erstere wurden erst nach der Wende anerkannt, während letztere nicht mehr gezwungen waren zu schweigen und ihr Schicksal zu verstecken. Das führte zu einer Schicksalsgemeinschaft. Dank meiner Verwandtschaft in Lugau wusste ich das. Die Oberschlesier, als eine katholische Diaspora, trafen sich dort jeden zweiten Sonntag zum Gottesdienst, aber über ihre Heimat wollten sie nicht sprechen, aus Angst, dass die Behörden die Gottesdienste als Vertriebenenversammlungen verbieten würden. Wenn wir uns heute an die Menschen der ersten Stunde erinnern, hier wie auch in der damaligen DDR, können wir sie immer erst dann verstehen, wenn uns die Umstände derselben bekannt sind. Dann ist auch der damalige Enthusiasmus kein Wunder. Das Schicksal lehrt uns, dass unsere Aufgabe nicht darin liegt, die Asche anzubeten, sondern das Feuer weiterzugeben. Tun wir das?

Bernard Gaida

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