In Anbetracht der derzeitigen rechtlichen und gesellschaftlichen Lage in Bezug auf die deutsche Minderheit in Polen informieren wir als Verband der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften in Polen (VdG) über die rechtliche Anerkennung der Diskriminierung der deutschen Minderheit und deren Sprache im Rahmen der Minderheitenpolitik und des Bildungsrechts und über die Stigmatisierung von Kindern, die Deutsch als Minderheitensprache erlernen. Hiermit reichen wir ein Beschwerdeschreiben ein, das sich auf die aktuelle Situation im Bereich der Minderheitensprachen bezieht.
Am 27. Januar 2022 hat der Sejm der Republik Polen endgültig über den Staatshaushalt für das Jahr 2022 und damit auch über die Höhe der finanziellen Mittel für den Minderheitensprachenunterricht entschieden. Am 4. Februar 2022 wurde die Verordnung des polnischen Ministers für Bildung und Wissenschaft, Przemysław Czarnek, erlassen, nach der die Stundenzahl ausschließlich für den Unterricht Deutsch als Minderheitensprache von drei auf eine Stunde wöchentlich reduziert wurde. Andere Minderheiten sind nicht betroffen. Aus der veröffentlichten Verordnung geht hervor, dass die Frage der Kürzung der Subvention nur die deutsche Minderheit betrifft.
Der Unterricht der Minderheitensprachen beruht sowohl auf nationalen Rechtsvorschriften als auch auf den internationalen Regelwerken des Europarates. Die Republik Polen hat im Jahr 2000 das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten und im Jahr 2009 die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen ratifiziert. In den Berichten des Beratungskomitees des Europarates über die Umsetzung der Verpflichtungen des Rahmenübereinkommens in Polen wird stets darauf verwiesen, dass es erhebliche Mangel im Bildungswesen der Minderheitensprachen gibt. Die wiederholten, konkreten Empfehlungen zur Verbesserung der Situation der deutschen Sprache als Minderheitensprache werden vor allem in den Berichten des Ministerkomitees des Europarats während des zyklischen Monitorings der Umsetzung der Charta geäußert. Alle Empfehlungen des Ministerkomitees zeigen auf, dass die Republik Polen immer noch viele der Verpflichtungen, die sie freiwillig angenommen hat, nicht umgesetzt hat, auch in Bezug auf den Unterricht in Minderheitensprachen.
In der aktuellen Situation heben wir entschlossen hervor, dass aufgrund des Rahmenübereinkommens sowie der Charta die Deutschen in Polen als autochthone nationale Minderheit Anspruch auf die Unterstützung auf dem gleichen Niveau wie die anderen Minderheiten haben. Beide Regelwerke sind wichtige Errungenschaften im internationalen System zum Schutz der Minderheiten und sollen für die Republik Polen wichtige normensetzende Instrumente darstellen.
Wir wenden uns an das Europäische Parlament als einen Sprecher nationaler und ethnischer Minderheiten auf dem EU-Forum, der in den letzten Jahren zahlreiche Entschließungen zu Mindestnormen für Minderheiten in der Europäischen Union angenommen hat, die an die EU und die Mitgliedstaaten gerichtet wurden, in denen die Bedeutung nationaler Minderheiten für Europa und die Notwendigkeit eines effizienteren und umfassenderen Schutzes innerhalb der europäischen Gemeinschaft hervorgehoben werden.
Wir weisen ausdrücklich auf die grundlegenden Normen und bestehenden Rechte hin, die in der aktuellen rechtlichen und gesellschaftlichen Situation in Bezug auf die deutsche Minderheit in Polen teilweise missachtet werden. Wir stimmen der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 13. November 2018 zu Mindestnormen für Minderheiten in der Europäischen Union zu:
Bildung ist ein entscheidendes Element bei der Sozialisation und Herausbildung der Identität und die Kontinuität der muttersprachlichen Bildung ist für die Erhaltung der kulturellen und sprachlichen Identität von entscheidender Bedeutung.
Wir vertreten die Auffassung, dass die Achtung der sprachlichen Vielfalt und die Förderung des Sprachenlernens in Polen gewährleistet werden soll. Die Bedeutung jeder Minderheitensprache muss anerkannt werden. Die deutsche Sprache muss in Polen als bedrohter Aspekt des europäischen Kulturerbes geschützt und gefördert werden.
Der Unterricht von Minderheitensprachen trägt zum gegenseitigen Verständnis zwischen Mehrheits- und Minderheitsbevölkerung bei und bringt die Gemeinschaften näher zusammen.
Wir vertreten die Auffassung, dass die deutsche Sprache ein wertvolles Gut ist, ein kultureller und wirtschaftlicher Mehrwert für die Regionalentwicklung und die Entwicklung des ganzen Landes. Die Identität der Personen, die der deutschen Minderheit angehören als auch die nationale Identität der Mehrheitsbevölkerung sind wichtig und schließen einander nicht aus.
Den Personen, die Minderheiten angehören, ist die vollständige und tatsächliche Gleichstellung garantiert. Die Rechte von Personen, die Minderheiten angehören, sind fester Bestandteil der universellen, unteilbaren und unveräußerlichen Menschenrechte.
Sprache ist ein identitätsprägendes und schützendes Menschenrecht. Die Deutschen in Polen sind loyale Bürger ihres Staates und haben als nationale Minderheit Anspruch darauf, ihre Muttersprache im staatlichen Schulsystem gefördert zu bekommen, um diese als wesentlichen Teil ihrer kulturellen Identität behalten zu können. Wir sehen in der Entscheidung des polnischen Sejms und des polnischen Ministers für Bildung und Wissenschaft einen Verstoß gegen die Charta und einen Verstoß gegen das menschenrechtliche Diskriminierungsverbot in der Verfassung der Republik Polens sowie einen Verstoß gegen die Entschließungen des Europäischen Parlaments, in denen die fundamentalen Normen in Bezug auf die Minderheiten festgestellt werden. In Artikel 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union wird ausdrücklich betont, dass Diskriminierungen verboten sind.
Die aktuelle Situation in Polen, in der durch die Erlassung einer Verordnung die Rechte von Personen, die Minderheiten angehören, eingeschränkt werden, deutet anschaulich darauf hin, dass der Schutz der Minderheitenrechte nicht nur im Bereich der Kompetenzen der Mitgliedstaaten liegen kann. Wir setzen auf den Schutz der Minderheitenrechte auf europäischer Ebene, damit die Interessen und Bedürfnisse der Minderheiten auf EU-Ebene besser zur Geltung gebracht werden können.
Als Verband der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften in Polen (VdG) und gleichzeitig als Mitglied der Föderalistischen Union Europäischer Nationalitäten (FUEN) haben wir die Europäische Bürgerinitiative „Minority SafePack“, in der ein europäischer Rahmen für den Schutz von Minderheiten gefordert wird, initiiert. Diese Kampagne haben wir als VdG in Polen koordiniert. Am 17. Dezember 2020 brachte das Europäische Parlament seine Unterstützung für diese Initiative zum Ausdruck. Leider auf der Tagung der Europäischen Kommission am 14. Januar 2021 wurde entschieden, dass der Beschluss nicht angenommen wird.
Angesichts einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung nur der deutschen Minderheit bitten wir um dringende Reaktion des Europäischen Parlaments, um die negativen Auswirkungen der Kürzung der Stundenzahl des Deutschunterrichts als Minderheitensprache zu vermeiden. Wir würden konkrete Maßnahmen begrüßen, die zur Verurteilung und Behebung der Benachteiligung der deutschen Sprache im polnischen Bildungssystem führen und die notwendige Gleichbehandlung der deutschen Minderheit im Hinblick auf Bildung gewährleisten würden. Die Europäische Union ist eine Gemeinschaft unterschiedlicher und doch durch gemeinsame Grundwerte geeinter Bürgerinnen und Bürger, die vor der Diskriminierung geschützt werden sollen.
Diesem Schreiben fügen wir die Stellungnahme des Verbandes der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften in Polen (VdG) an, in der wir appellieren, dass die Änderung vom 4. Februar 2022 aus dem Rechtsverkehr zurückgezogen werden soll.
Hochachtungsvoll
Bernard Gaida
Vorstandsvorsitzender
Kopie des Schreibens ist verfügbar:
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