Die Sonntagsnachrichten zeigten die Dunkelheit, die in Odessa herrscht. Aus dieser Dunkelheit tauchten die Konturen des Opernhauses auf. Ich kenne dieses schöne Gebäude gut. Im Jahr 2019 bewunderte ich dort die Aufführung von Chatschaturians „Maskerade“.
Ich habe Odessa zweimal gesehen. Das zweite Mal im vergangenen Jahr. Immer im Sommer, wenn das Zentrum dieser Perle des Schwarzen Meeres voller Grün und prächtiger Architektur mit einer Menge fröhlicher und lachender Menschen gefüllt war. Aber ich habe es im Grunde dreimal gesehen, denn der Boulevard am Meer und die Potemkinsche Treppe versetzten mich in die Welt, die Valentin Katayev in seinem Roman „Das einsame Segel ist weiße“ beschrieben hat, den ich als Kind gelesen habe. Mir schien, dass ich dort nur lächelnde Menschen traf. Ich habe dort auch die Schwarzmeerdeutschen besucht.
Damals war es für mich nicht so wichtig, dass ich in Odessa überall Russisch hörte. Heute weiß ich, dass es genau diese Tatsache ist, die Putins Propaganda, sich für die russischsprachigen Einwohner der Ukraine einzusetzen, nachdrücklich widerlegt. Diese russischsprachigen Einwohner von Odessa stehen vor dem Winter und einer humanitären Katastrophe. Wie sieht sie aus? Die von Russland mit iranischen Drohnen angegriffene Stadt Odessa ist mit weit über einer Million Einwohnern die drittgrößte Stadt der Ukraine. Heute gibt es dort keinen Strom und damit kein Wasser und meist auch keine Heizung. Google sagt, dass es dort regnet und +5*C sind, aber es soll schneien und die Temperaturen in der Nacht auf -5*C fallen. Die Energieschäden sind so groß, dass es mehrere Wochen dauern könnte, das Netz zu reparieren.
Wie kann man sich das Leben von einer Million Menschen vorstellen, wenn die Grundvoraussetzungen dafür nicht gegeben sind? Können Krankenhäuser, Küchen, Fabriken und Büros funktionieren? Wo soll man schlafen, wenn es keine Heizung gibt? Woher kommen die warmen Mahlzeiten, auch für Kinder? Die Appelle der Behörden an die Menschen, die Stadt zu verlassen, klingen dramatisch.
Wer die Geschichte kennt, muss die russische Aggression mit früheren völkermörderischen Verbrechen in Verbindung bringen, die in den 1930er-Jahren von Moskau aus gesteuert wurden: Ausrottung durch Aushungern, aber auch sowjetische Säuberungen und Deportationen, deren Opfer u. a. in einem Massengrab unweit von Odessa liegen. Diese Hinrichtungsstätte, die ich letztes Jahr besucht habe, wurde gerade archäologisch untersucht, und inzwischen gibt es in der Ukraine neue Massengräber mit russischen Opfern.
Die Deutschen aus Odessa erzählten mir von ihren Vorfahren, die Opfer der sowjetischen Verbrechen waren und nun selbst, zusammen mit anderen, Ziel eines neuen Völkermords sind. Diejenigen, die mir Odessa gezeigt haben, sagen jetzt verbittert, dass sich die Welt an das ukrainische Leid gewöhnt hat. In der Mitte der Adventszeit, dieser Zeit des Wartens, wollen wir uns an diejenigen erinnern, die buchstäblich auf Licht in der Dunkelheit warten, auf Wärme, auf Hoffnung, auf Frieden. Vielleicht können wir ihnen in irgendeiner Weise helfen? Jeder, wie er nur kann.
Bernard Gaida