Mitteleuropa

Mitteleuropa Wien / Wiedeń. Foto: Pixabay

Über das Phänomen Mitteleuropa wurden schon viele Bücher geschrieben und es ist schwer, dem noch etwas Neues hinzuzufügen. Wenn ich „Phänomen“ schreibe, denke ich natürlich nicht an den geografischen Begriff. Jeder, der Josef Roth, Józef Wittlin, einige Fragmente von Mircea Eliade oder schließlich „Donau: Biographie eines Flusses“ von Claudio Magris gelesen hat, weiß, was ich meine. Beide Kriege des 20. Jahrhunderts, vor allem aber ihre Konsequenzen in den Verträgen, machten aus dem Phänomen eher eine historische denn eine zeitgenössische Tatsache.

Und doch, als ich durch dieses Europa in den letzten beiden Wochen mehrere tausend Kilometer gefahren bin, überschritt ich nicht nur die Grenzen der Slowakei, Ungarn, Rumäniens und der Ukraine, ich durchfuhr vor allem Regionen wie Zips, Siebenbürgen, Dobrudscha, Bessarabien, die Schwarzmeerregion um Odessa, die Bukowina und Transkarpatien. All diese Regionen können, trotz der kulturellen Verarmung der letzten 100 Jahre, bezaubern durch die Vielfalt der Menschen und ihrer Schicksale.

In all den Regionen hinterließen Deutsche ihre Spuren, die man in der Städteplanung, der Agrarkultur, der Dorfarchitektur, der Literatur und der Religion sieht. Überall da fühlten sie sich gut zwischen Ungarn, Rumänen, Ukrainern, Polen, Bulgaren, Türken oder Russen. Sie bauten ihre katholischen oder lutherischen Kirchen, daneben Schulen für ihre Kinder, sie vermieden es, in lokale Kriege hineingezogen zu werden, indem sie ihren Siedlungsort wechselten, wenn ein Konflikt sie einholte. Dieses Mosaik der Menschen und ihrer Kulturen führte zu toleranten Gemeinschaften, bis sie von Nationalismen angegriffen wurden.

In Tschernowitz erzählt Inge Wittal, dass ihre Großmutter fünf Sprachen gesprochen hatte, denn in den Familien und auf den Straßen nutzte jeder seine Sprache, wodurch alle ihre gegenseitigen Sprachen verstanden haben. Im Norden der Bukowina lebten Ukrainer, Deutsche, Rumänen, Polen und Juden und niemand war eine Mehrheitsgesellschaft, sodass man sich in Freundschaft tolerierte. Der Karneval war eine Zeit, in der man an den Samstagen auf einen deutschen, polnischen oder rumänischen Ball ging. Goethe- und Schillerstraßen, seit der Zeit der KuK-Monarchie, wurden nie umbenannt, auch zu Sowjetzeiten nicht.

In Odessa sieht man noch heute jüdische Familien in ihrer charakteristischen Kleidung und wenn man die umliegenden Dörfer besucht, hört man nicht nur russische, sondern auch bulgarische Sprache. In den rumänischen Städten Sathmar (Satu Mare) und Kronstadt (Brasov) bestehen bis heute nebeneinander deutsche, ungarische und rumänische Schulen, die um Schüler buhlen.

Das Phänomen Mitteleuropa war kein Zufall, aber es entstand aus Toleranz und dazu wurden die Menschen „erzogen“. Schade, dass es sich nicht vor den Nationalstaaten schützen konnte und dass so wenig davon geblieben ist.

Bernard Gaida

Geschrieben am 10.08.2021 in Transkarpatien

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