VdG bewertet das neue Kerncurriculum für Deutsch als Minderheitensprache

VdG bewertet das neue Kerncurriculum für Deutsch als Minderheitensprache Foto: S. Hermann, F. Richter / Pixabay

Stellungnahme des Vorstandes des VdG in Polen zum neuen Kerncurriculum für den Unterricht von Deutsch als Minderheitensprache

Der Vorstand des VdG in Polen hat sich während der Sitzung am 6. Juni 2022 mit dem Entwurf des neuen Kerncurriculums für den Unterricht Deutsch als Minderheitensprache vertraut gemacht und gibt eine eindeutig negative Stellungnahme ab.

Begründung:
Am 25. Mai 2022 kündigte das Ministerium für Bildung und Wissenschaft an, eine neue Verordnung über das Kerncurriculum für den Unterricht Deutsch als Minderheitensprache auf den verschiedenen Bildungsstufen zu erlassen. Die neue Verordnung ist wichtig für Lehrer, die für die Durchführung von Unterricht in Deutsch als Minderheitensprache zuständig sind. Das neue Kerncurriculum wurde an die
Verordnung des Ministers für Bildung und Wissenschaft vom 4. Februar 2022 angepasst, in der die ungünstige Reduzierung der Unterrichtsstunden für Deutsch als Minderheitensprache (von 3 auf 1 Stunde pro Woche) nur für die deutsche Minderheit gilt. Die neuen Vorschriften sollen am 1. September 2022 in Kraft treten.

Der Entwurf des neuen Kerncurriculums ist Teil der weiteren Diskriminierung polnischer Schüler deutscher Nationalität. Wir haben hier mit einer Differenzierung der Schüler auf der Grundlage ihrer Muttersprache zu tun. Das Kerncurriculum für alle nationalen und ethnischen Minderheiten wurde zur Grundlage eines neuen Curriculums nur für den Unterricht in Deutsch als Minderheitensprache genommen. Nur wenige Inhalte und Ziele wurden geändert, viele wurden aber reduziert.

Das neue Kerncurriculum berücksichtigt in der Entwicklung des Schülers nicht die Aufgabe, das Geschichtsbewusstsein zu stärken. Lediglich die „Stärkung des Nationalgefühls, die Vertiefung der Kenntnisse der deutschen Literatur und Kultur“ wurden hervorgehoben. Zum Inhalt des Unterrichts in Deutsch als Minderheitensprache auf der ersten Bildungsstufe gehört es nicht, dass der Schüler Elemente der Geschichte der deutschen Minderheit, der er angehört, kennenlernt. Die Unterrichtsinhalte für die Klassen I bis III enthalten keine so wichtigen Elemente des Bewusstseins für das eigene nationale Erbe wie die Wahrnehmung und das Verständnis des Wertes der Muttersprache und das Bewusstsein für die eigene nationale Identität, was den allgemeinen Annahmen des Kerncurriculums und dem Wesen des Unterrichts in diesem Fach bereits in den ersten Klassen der Grundschule widerspricht. Die Unterrichtsinhalte für die Klassen IV-VI lassen auch einige sehr wichtige Schülerfähigkeiten aus, die für das Unterrichten dieses Faches von zentraler Bedeutung sind: Kenntnis und Verständnis der Grundlagen der nationalen Kultur, mit besonderer Berücksichtigung ihrer Helden, Ereignissen, Symbolen oder Legenden; Kenntnis grundlegender Fakten über das Leben der Minderheit oder Erkennen der wichtigsten Themen und Motive, die für die nationale Literatur charakteristisch sind.

In der allgemeinen Beschreibung des Unterrichts von Deutsch als Minderheitensprache in der Grundschule werden Beispiele für die Unterstützung dieses Unterrichts genannt: „Der Unterricht in Deutsch als Minderheitensprache sollte durch die Vermittlung von Sitten, Gebräuchen und angemessenem Verhalten im familiären, örtlichen und schulischen Umfeld unterstützt werden.“

In diesem Zusammenhang ist es jedoch unverständlich, dass die Kenntnis grundlegender Fakten über das Leben der lokalen Gemeinschaft nicht zu den Lernzielen der zweiten Bildungsstufe gehört. Die Notwendigkeit der Muttersprachenkenntnisse wurde auch nicht in den Aufbau der familiären und kulturellen Gemeinschaft einbezogen, was im Widerspruch zur allgemeinen Beschreibung des Unterrichts in diesem Fach steht, in der es heißt: „Die Rolle des Lehrers besteht darin, den Schülern bewusst zu machen, dass Gemeinschaften wie Familie, lokale Gemeinschaft und das Vaterland im Leben eines jeden Menschen von großem Wert sind und dass jeder gegenüber diesen Gemeinschaften Pflichten hat“.

Das Kerncurriculum sieht keine aktive Teilnahme der Schüler am Leben der lokalen Gemeinschaft vor, was zu einer eingeschränkten Einbindung in die lokale Gemeinschaft und damit zu einem Verlust des Gefühls der Verbundenheit mit der eigenen Kultur und den eigenen Traditionen sowie zu einer mangelnden Entwicklung des Respekts vor der Geschichte der deutschen Minderheit und ihrem kulturellen Erbe führen kann. Im Bereich der literarischen und kulturellen Bildung umfasst das Kerncurriculum nur allgemeine Kompetenzen der Schüler und lässt z. B. die Fähigkeit, für die deutsche Minderheitenkultur charakteristische Gattungen zu erkennen, aus. Auch im Curriculum für die
Bildungsstufe 3 (Lyzeum und Technische Fachschule) findet sich in den allgemeinen Bildungszielen für den grundlegenden und erweiterten Unterricht kein Hinweis auf die bewusste Teilhabe am Leben der Bewohner einer bestimmten Region.

Durch den Unterricht in Minderheitensprachen in vollem Umfang erwerben die Schüler nicht nur das Wissen, sondern entwickeln vor allem Kompetenzen und werden zu einem vollwertigen Teil einer multikulturellen Gesellschaft. Ein besseres Verständnis der kulturellen Unterschiede fördert die Kreativität der Schüler im Alltag, die sich beispielsweise in einer klaren Kommunikation, in einer mehrdimensionalen Wahrnehmung der Realität und folglich in der Suche nach originellen Lösungen und gemeinwohlorientierten Entscheidungen äußert. Die Bildungsziele des neuen Kerncurriculums für die Bildungsstufen II und sogar III lassen mehrere Schlüsselkompetenzen außer Acht, die diese aktive Beteiligung der Schüler fördern: die Entwicklung der Fähigkeit, nationale und universelle Werte zu verstehen und die Entwicklung des Bedürfnisses an kulturellen Veranstaltungen teilzunehmen.

Das neue Kerncurriculum wird die Bereicherung der lexikalischen Ressourcen der Schüler und die Entwicklung ihrer Konversationsfähigkeiten nicht fördern, was die aktive Teilnahme der Schüler am Leben in einem multikulturellen Umfeld stark einschränken wird. Die didaktische und erzieherische Arbeit im Rahmen des Minderheitensprachunterrichts in den letzten Klassen der Grundschule sollte unter anderem darauf ausgerichtet sein, die Fähigkeit der Schüler zu vertiefen, ihre eigenen Einstellungen in einem multikulturellen Umfeld zu bewerten.

Das neue Curriculum für die zweite Bildungsstufe berücksichtigt jedoch nicht die Notwendigkeit, dass der Schüler verschiedene Modelle sozialer, nationaler oder kultureller Einstellungen und die damit verbundene Möglichkeit der Entwicklung seiner Identität wahrnehmen kann. Diese Kompetenz ist erst für die dritte Bildungsstufe vorgesehen, und dies auch nur in einem erweiterten Umfang. Das neue Kerncurriculum wird die Bildungsentwicklung von Kindern und Jugendlichen, die den Unterricht besuchen, nur in sehr beschränktem Maße ermöglichen.

Aufgrund der Reduzierung der Anzahl der Unterrichtsstunden für die Mehrheit der Schüler, die bisher am Unterricht teilgenommen haben, bedeutet die derzeitige Situation, dass die Kontinuität des Didaktischen- und Erziehungsprozesses, die zum Zeitpunkt der Antragstellung garantiert war, nicht gewährleistet ist. Der Antrag bezieht sich nämlich auf die gesamte Dauer der Ausbildung eines Schülers an einer bestimmten Schule. Wegen der Löschung vieler Inhalte und Lernziele, die für den Unterricht von Deutsch als Minderheitensprache relevant sind, wird dieser eher dem Unterricht einer modernen Fremdsprache ähneln, und auch hier wird sich die Umsetzung des Curriculums auf die ganz grundlegende Entwicklung kommunikativer Fähigkeiten beschränken. Die wichtigsten identitätsstiftenden, kulturellen und historischen Inhalte wurden aus dem Kerncurriculum gestrichen. Die Umsetzung des Kerncurriculums im Rahmen einer Stunde pro Woche ermöglicht nur in geringem Maße die Herausbildung eines nationalen Identitätsgefühls und das Lernen über das kulturelle und wissenschaftliche Erbe der eigenen Minderheit.

Die Aufgabe des Lehrers besteht nicht mehr darin, die Jugendlichen mit den wichtigsten Tendenzen in der zeitgenössischen Kultur einer nationalen Minderheit vertraut zu machen, was es den Jugendlichen sicherlich sehr schwer machen wird, sich aktiv an internationalen Projekten zu beteiligen. Die Schüler der letzten Bildungsstufe werden sicherlich nicht zu bewussten Nutzern der Minderheitensprache und
Empfängern der Kultur, wie im Kerncurriculum teilweise angenommen, die in der Lage sind, ihr Wissen über die Sprache, die Tradition und die Gegenwart zu systematisieren. Der Unterricht in Deutsch als Minderheitensprache wird nicht wesentlich dazu beitragen, eine Haltung des Respekts vor der Tradition und der Kultur des eigenen Volkes und damit eine Haltung des Respekts vor anderen Sitten und
Denkweisen zu entwickeln.

Die Entscheidung, die Mittel für den Minderheitensprachunterricht zu kürzen und die Reduzierung der Stundenzahl und damit die Änderungen im Kerncurriculum werden unweigerlich zu einem weiteren Rückgang des Bildungsniveaus im Fach Deutsch als Minderheitensprache führen. Gemäß dem Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten und der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen, aber auch gemäß der Verfassung der Republik Polen und dem Gesetz über nationale und ethnische Minderheiten und Regionalsprachen haben die Deutschen in Polen als autochthone nationale Minderheit das Recht auf Bildungsförderung auf demselben Niveau wie andere Minderheiten.

Rafał Bartek
Vorstandsvorsitzender
Oppeln, den 6. Juni 202

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