Hinter uns liegt der Volkstrauertag 2021. Als ich im ökumenischen Gottesdienst im Oppelner Dom die leeren Bänken gesehen und gemerkt habe, dass mitten in der Region, in der die stärkste Gruppe der deutschen Minderheit lebt, die Teilnehmer fehlten, um für die unzähligen Opfer zu beten, habe ich mir die Frage gestellt, ob wir einen Gedenktag noch brauchen. Später habe ich erfahren, dass in einigen Ortschaften doch lokale Gedenkveranstaltungen organisiert wurden. Aber auch das verändert nicht besonders die Tatsache, dass in Oberschlesien die Botschaft des Volkstrauertages nicht wirklich verstanden wurde. Brauchen wir also einen solchen Gedenktag?
Ja, wir brauchen ihn aus Respekt vor den Millionen Opfern von Krieg und Gewalt. Wir brauchen diese Momente des Innehaltens, genauso wie wir Orte des Gedenkens brauchen, damit das, was geschehen ist, nicht verdrängt wird. Das nationale Gedächtnis, das eine identitätsstiftende Wurzel unseres Verständnisses von Volkszugehörigkeit, Geschichte und Gesellschaft ist, braucht Stützen der Erinnerung. Besonders für uns, die wir als Minderheit leben, ist der Gedenktag wichtig, weil so viele unserer deutschen Gedenkorte und Denkmale zerstört wurden oder gar nicht entstanden sind. Immer noch sind Hunderte von Nachkriegslagern mit keiner Tafel gekennzeichnet und ihre Opfern zumeist namenslos. Der Volkstrauertag gibt uns die Möglichkeit, der in polnischen Gedenkveranstaltungen und der Geschichtsschreibung zumeist verschwiegenen deutschen Soldaten, anderer Opfer des Krieges, der Vertreibung und des Nachkriegsterror offiziell zu gedenken.
Die Geschichte dieses Tages geht zurück auf eine Anregung aus dem Jahre 1920. Damals ging es darum, an die Toten des Ersten Weltkrieges zu erinnern. Verbunden damit war die Hoffnung, dass die Erinnerung an den Schrecken und das millionenfache Leid des Krieges den Frieden unverbrüchlich machen würde. Doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg ist dies -jedenfalls in Europa – weitgehend Realität geworden. Aber auch wenn in Europa Frieden herrscht, darf nicht vergessen werden, dass die meisten Migrantenwellen durch Krieg, Gewalt und Armut verursacht sind.
Wenn wir in Richtung der polnisch-weißrussischen Grenze und der dortigen grausamen Geschehnisse schauen, sehen wir, dass die Politik weiterhin sowohl mit den Gründen als auch mit den Folgen der Migration nicht umgehen kann. Und wieder ist der einfache Mensch der Verlierer. Der Volkstrauertag soll uns lehren, auf gegenwärtige Opfer des Krieges mit Liebe und Hilfsbereitschaft zu schauen. „Versöhnung über den Gräbern“ – ist politisches Motto des Tages und die Friedensarbeit durch Symbole, wie der Händedruck von Helmut Kohl und Francois Mitterand auf dem Gräberfeld der Schlacht von Verdun. Menschen, die solche Symbole miterlebt haben, werden nie eine Nationalfahne schänden!
Erinnerungskultur ist die bewusste Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der Volkstrauertag ist der beste Tag, an dem die deutsche Minderheit zeigen kann, wie sie Erinnerungskultur versteht und was sie von der Mehrheit erwartet.
Bernard Gaida