Die Wahl hat stattgefunden. Das Volk hat gesprochen und auch wenn Olaf Scholz wiederholt, dass die Wähler klar gezeigt hätten, sie wollen eine Koalition aus SPD, Grünen und FDP, sieht man eher deutlich, dass die Wähler sich für keine Koalitionsoption klar ausgesprochen haben. Fast genauso viel Vertrauen wie die SPD bekam die CDU/CSU. Es entscheiden also programmatische Kompromisse.
Um nicht ein weiterer „Kaffeesatzleser“ zu sein, widme ich mich dem samstäglichen Ereignis (25.09.) in Lubowitz. Auf meine Idee von vor einem Jahr hin hat das Oberschlesische Eichendorff-Kultur- und Begegnungszentrum ein Seminar zum 30-jährigen Jubiläum des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrages organisiert, an dem für das Thema wichtige Referenten teilgenommen haben. Schon vor einem Jahr habe ich gesagt, dass man in Oberschlesien daran erinnern muss, dass die Regierungen von Deutschland und Polen im Jahr 1989 entschieden haben, vor allem das Erbe Eichendorffs zu bewahren und zugänglich zu machen. Daher widmete ich mein Referat dem Versuch zu verstehen, wieso es so nicht gekommen ist und der Ort, dem die Regierungen tatsächlich ihre Aufmerksamkeit schenkten, Kreisau und die dort entstandene Stiftung gewesen ist.
Die Vorbereitungen zu diesem Referaten erlaubten mir, einige Hypothesen aufzustellen. Vor allem stieß ich auf den Wortlaut einer Rede Helmut Kohls aus dem Jahr 1988, die voller persönlicher emotionaler Verehrung für den Lubowitzer Dichter gewesen ist, den Kohl den deutschesten unter den deutschen Dichtern nannte. Es heißt in der Rede: „Eichendorffs Werke sind (…) reine Inkarnation von Gefühls- und Charakterzügen unseres Volkes und daher wissen sie unfehlbar den Nerv zu treffen“. Es ist für uns leicht, Kohls Gedanken zu begreifen: „Seine schlesische Heimat hat Eichendorff besungen, wie man es sich eindringlicher und schöner kaum vorstellen kann“. Und gleichzeitig warnt er davor, seine Poesie auf eine Volkstümlichkeit zu reduzieren, was diesem Romantiker, dessen Worte zusammen mit der Musik Schumanns oder Mendelssohns allgemein bekannt sind und sogar bei Volksfesten gesungen werden, vorgeworfen werden kann.
Kohl sieht in seiner Poesie und seinem Leben die Haltung einer konfessionsübergreifenden Religiosität, einer Öffnung auf die kulturelle Vielfalt und die Erfüllung der humanistischen Aufklärungsideale durch die menschliche Bindung an die Heimat, deren Verlust mit Leid verbunden ist. Kohl sieht darin einen Widerstand gegen jedwede Enterbung aus der Heimat und ihrer Attribute wie der Sprache oder Religion. Ist es also nicht so, dass Kohl persönlich daran gelegen war, das Erbe Eichendorffs zu schützen und daher steht er als einziger deutscher Dichter in der gemeinsamen Erklärung, die er mit Mazowiecki unterzeichnet hatte?
Ich kann nur empfehlen, das ganze Referat auf der Facebook-Seite des Lubowitzer Zentrums, das leider zu wenig Werbung für das Seminar gemacht hat, nachzuhören. Zum Glück kommt da das Internet jedem zu Hilfe, der die Quelle erreichen will.
Bernard Gaida